Sinn des RU

Aktualisiert am 21.10. 2013

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Rede an den Abiturjahrgang 1999 über die Bedeutung des schulischen Religionsunterrichts  Markus Richter

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Eltern,  verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste

 

Im Jahr 1496 erteilte der Rat der Stadt Bern einem Bildhauer den Auftrag, »sant Christoflen uff dem obern tor zu machen«.  Zwei Jahre später ist das zehn Meter hohe Standbild fertig und wird außen an einem Stadttor, dem Christoffelturm, aufgestellt.  Als 1528 Bern reformiert wird, findet auch die Heiligenverehrung ein Ende. Man möchte nicht länger einen Christophorus ins Straßenbild schauen sehen, darum entfernt man das Christuskind von seiner Schulter, ebenfalls den Nimbus (Heiligenschein) und setzt dem »Christoffel« statt dessen ein Federbarett auf, dazu kommt ein neues Schwert und statt des Baumstammes eine Hellebarde: aus dem Heiligen wird ein altertümlicher, kriegerischer Turmwächter.

Bis ins 18. Jahrhundert wird das Standbild regelmäßig bemalt und instandgehalten. Seine ursprüngliche Bedeutung aber geht unter.  Im 19. Jahrhundert betrachtete man ihn als lustige Merkwürdigkeit, die bei Volksfesten eine Rolle spielte.  Selbst der Name »Christoffel« ließ nicht mehr an die (wohl ebenfalls vergessene) Christophoruslegende denken.  Als aber der Wehrturm, um die Straße zu öffnen, abgebrochen werden soll, ist auch das Schicksal des Standbildes entschieden.  Am 25.  Januar 1865 wird es aus der Turmnische geholt und als Brennholz für die Armenfürsorge bestimmt.  Nur die »historisch interessanten Partien«, wie der Kopf, eine Hand und die Füße, sollen laut Ratsbeschluß aufbewahrt werden.  Hand und Füße verwahrt seitdem das Bernische Historische Museum; an dem hoheitsvollen Gesicht des Christoffel aber strömen heute jeden Tag viele tausend Menschen vorbei: es befindet sich in der Nähe des alten Platzes in der unterirdischen Passage des Hauptbahnhofs.

Ich habe Ihnen diese Geschichte erzählt um daran die Bedeutung des schulischen Religionsunterrichts zu veranschaulichen.  Herr Anton hatte angeregt, daß eine Vorstellung einzelner Schulfächer einmal das Thema eines losen Zyklus’ von Abiturreden sein könnte. Gerade angesichts mancher Tendenzen zur Abschaffung des Religionsunterrichts oder zur Einführung des Faches “Lebenskunde - Ethik - Religionskunde (LER) scheint mir eine Begründug schulischen Religionsunterrichts geboten.

Eine ganzen Reihe von Ihnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten haben mit mir drei Grundkursjahre, einige sogar insgesamt vier Jahre Religionsunterricht durchgestanden. Ich entnehme der Abiturzeitung, daß ich Sie nicht unterfordert habe. Zitat:  “Religion auf Leistungskursniveau, macht uns alle gar nicht froh!”

Auch den Französisch-Leistungskurs habe ich immer wieder mit -  Zitat: “christlichem Trallalla” erfreut. Ob sich in Ihren Augen Ihre Mühen gelohnt haben, weiß ich nicht. Was ich damit angezielt habe, weiß ich sehr wohl. Ich komme nochmals auf unseren Christoffelkopf zurück:

Ungefähr so, wie dem Christoffel in Bern, geht es heute - man mag es bedauern oder nicht -  auch der christlichen Religion. So wie Hände und Füße des Christophorus, des Christusträgers,  ins Museum verbannt wurden, so hat das Christentum viel von seinem Einfluß verloren, ihm sind gleichsam Hände und Füße abgeschnitten worden. Der Christoffel hat sein Christuskind verloren, heißt aber weiter Christoffel, vielleicht so wie die C-Parteien vom Christlichen wohl nur noch den Namen und einige Gesichtszüge behalten haben. Manches Christliche wird als lustige Merkwürdigkeit betrachtet, die bei Volksfesten eine Rolle spielt.

Das Christliche bleibt aber Teil unserer Kultur, sowie der Christoffel Teil des Stadtbildes von Bern. An den  Resten der christlichen Religion, an Bräuchen, Riten, christlichen Bauwerken, n vom Christentum geprägter Kunst, Literatur und Musik, an christlichen Werten strömen gewissermaßen immer noch täglich die Menschen vorbei, wie am Kopf des Christoffel, oft leider aber ohne ihre eigentliche Bedeutung zu verstehen.

 

1. Wozu dient der Religionsunterricht?

Man müßte, denke ich, unterhalb des Berner Christoffelkopfes ein Schild aufstellen, um den gedankenlosen Passanten zu erzählen, was es mit diesem Kopf auf sich hat, daß Christophorus einstmals ein Christuskind getragen hat, das er gefunden hat,  indem er den Menschen über ein Hindernis, einen Fluß half. Genau das tut der Religionsunterricht:

 

1. Der Religionsunterricht ist ein Schild unterhalb des Christoffelkopfes, das die Passanten darüber informiert, welche Geschichte und Bedeutung, dieser Kopf hat. Dieses Schild trägt dazu bei, Geschichte und heutiges Aussehen der Stadt Bern zu verstehen.

Anders gesagt: Der Religionsunterricht trägt dazu bei, unsere eigene Kultur und Geschichte, die ganz entscheidend vom Christentum geprägt wurde, besser zu verstehen.

Insofern ist er für gläubige und ungläubige Schüler relevant, da beide in dieser Kultur leben.

Auch für das Verständnis anderer Fächer behält der Religionsunterricht seine Relevanz. Nehmen wir den Französisch-Unterricht:  Wie will man die Religionskritik Voltaires verstehen, ohne ein Hintergrundwissen über wesentliche Züge der christlichen Tradition? Wie will man Ludwigs des 14. Religionspolitik einschließlich der Aufhebung von Port-Royal begreifen, wenn man nicht wenigstens ungefähr weiß, welcher christlichen Doktrin die dort residierenden Jansenisten folgten? Kann man den Atheismus Sartres und seinen Freiheitsbegriff als Gegenkonzept zur christlichen Ideologie erfassen, ohne diese in Grundzügen zu kennen?

 

2. Wenn es auch am Christoffelkopf nicht mehr sichtbar ist, so ist Christophorus eigentlich jemand, der Gott sucht. Nachdem er diesen Herrn der Welt nicht bei den Mächtigen findet, geht er an einen Fluß und hilft Menschen dort, wo es für sie nicht weitergeht, wo ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Genau dort, im Dienst an den Kleinsten und Geringsten, findet er schließlich Gott, symbolisch dargestellt im Christuskind. Auch darum geht es im Religionsunterricht:

Der Religionsunterricht ist ein Schild unterhalb des Christoffelkopfes, das den Passanten die alte Legende von Christophorus erzählt und die Passanten daran erinnert, daß Christophorus nach mehr gesucht hat, daß er sich nicht zufriedengegeben hat mit der eigenen Stärke oder mit der irdischer Könige, sondern daß er nach einem Größeren gesucht hat. Insofern regt dieses Schild auch die Passanten dazu an, sich nicht mit der vorfindlichen Wirklichkeit allein  abzugeben, sondern ebenfalls nach diesem “Mehr”, dem “Größeren” zu suchen.

Anders gesagt: Der Religionsunterricht hält für die Schüler die Frage nach Gott offen. Er geht davon aus, daß es zum Wesen des Menschen gehört, über das, was wir mit unseren Sinnen erfahren können, hinauszufragen. Er glaubt, daß es für den Menschen - um mit Wittgenstein zu sprechen - “mit den Dingen dieser Welt nicht abgetan ist”, und es auch nicht sein sollte.

Das heißt nicht, daß ein Schüler diese Frage nach Gott nicht für sich negativ beantworten kann.

Ich denke hier gerade an Abiturienten aus meinem Religionskurs, die als erklärte Atheisten dem Unterricht so aufmerksam folgten, daß sie hier sehr gute Leistungen erbracht haben.

Es geht aber darum, daß die  Frage nach dem, was über die konkret erfahrbare Wirklichkeit hinausgeht, nach dem Woher und Wohin, nach dem Sinn des Lebens und des Todes überhaupt noch gestellt und im Dialog reflektiert wird.

 

3. Wenn Sie Sich an die ganze Christophoruslegende erinnern, dann fällt ihnen sicher wieder ein, daß Christophorus am Ende, zum Erweis dessen, daß er wirklich Gott gefunden und ihm gedient hat, seinen Stab in die Erde stecken soll. Dieser fängt daraufhin an Blätter und Blüten zu treiben und Früchte zu tragen. Damit ist gesagt, daß dieses Leben dessen, der im Dienst an den Schwachen und mit großer Opferbereitschaft, Christus selbst diente, ingesamt ein blühendes Leben ist, welches Früchte trägt.    

Der Religionsunterricht ist ein Schild unterhalb des Christoffelkopfes, das den Passanten die alte Legende von Christophorus erzählt und ihnen damit ein mögliches Modell fruchtbarer  Lebenführung anbietet.

 

 

Anders gesagt: Der Religionsunterricht bietet jungen Menschen Orientierung, indem er am Beispiel des Christentums (aber auch anderer Religionen) ein mögliches Modell  sinnvoller Lebensdeutung und -führung darstellt.

Der RU ist kein Katechismus. Es geht ihm nicht darum, Gläubige zu rekrutieren. Er geht jedoch davon aus, daß es nötig ist, zunächst einmal ein Orientierungsmodell vorzustellen, von dem aus dann erst andere verglichen werden können. Nun hat aber das christliche Modell wesentlich auch  die Wertmaßstäbe unserer Kultur geprägt und eignet sich deshalb besonders dazu, solch ein Orientierungsmodell abzugeben.

 

Ich fasse nochmals zusammen: Welches sind die Ziele des Religionsunterrichts?

1. Der Religionsunterricht will Jugendlichen helfen, unsere Kultur, die wesentlich vom Christentum geprägt wurde, besser zu verstehen.

2. Der Religionsunterricht hält die Frage nach Gott, nach dem Transzendenten, offen.

3. Der Religionsunterricht will Orientierungshilfe bieten.

 

 

2. Wie und mit welchen Inhalten wollen wir im Religionsunterricht diese Ziele errreichen?

 

Antwort 1: Indem wir die Inhalte des Religionsunterrichtes weit weniger als früher vordergründigen Schülerinteressen überlassen, sondern versuchen, einem Themenplan zu folgen, bei dem zu Lernendes auf bereits Gelerntem aufbaut. Der Religionsunterricht ist nicht das Feld für alle möglichen Themen von Gewalt bis Rechtsradikalismus, Drogensucht, Sex and Crime. Der Religionsunterricht will gerade kein LER sein.

Antwort 2: Indem wir den Religionsunterricht vor allem als Sprachunterricht verstehen.

Was das konkret bedeutet,  möchte ich Ihnen genauer erläutern.

 

2.1. Religionsunterricht ist Sprachunterricht

Religion spricht sich nicht in der Alltagssprache aus, sondern folgt einem eigenen Sprachspiel. Religiöse Sprache ist symbolisch, metaphorisch, mythisch, legendenhaft. Durch die Säkularisierung der Lebenswelt ist auch weitgehend der Sinn für religiöse Ausdrucksweisen verlorengegangen. Vielfach wird Religion nicht einfachhin abgelehnt, sondern ihre Aussageformen bleiben unverstanden. Nehmen wir zum Beispiel die Legende, eine typische religiöse Textform, die oft leichtfertig als unwahr abgetan wird, weil man sie mit einem Bericht verwechelt und Wahrheit mit Fotographierbarkeit gleichsetzt.

Da werden nun unsere Schüler mit der Legende von  Christophorus konfrontiert.

Es ist klar, daß man dem leibhaftigen Teufel nicht begegnen kann, wie das die Legende erzählt. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß jemand es sich zur Aufgabe macht, Leute auf der Schulter über einen Fluß zu bringen. Auch treibt ein alter knorriger Stock, in die Erde gesteckt, nicht schon am nächsten Tag Blüten.  Die Person des Christophorus ist als ganze keine individuelle historische Persönlichkeit.

Erste Anwort von Schülern auf die Wahrheitsfrage der Legende: Die Geschichte hat einen wahren Kern und erfundene Ausschmückungen. Das aber ist falsch. Hier gilt es genau hinzuschauen: Die Wahrheit der Legende liegt ja gerade in den so unwahrscheinlich anmutenden Symbolen. Es ist aber doch wahr, daß es immer wieder Menschen wie Christophorus gibt, die uns dann helfen, wenn uns das Wasser bis zum Hals steht. Es ist wahr, das gerade solch ein Leben ein blühendes ist, welches Früchte trägt, und es ist uralte christliche Überzeugung, daß der Dienst am Mitmenschen ein Dienst für Christus ist. Gerade dort, wo die Legende am unwahrscheinlichsten klingt, ist ihre Wahrheit zu suchen.

Solche Textdeutungskompetenz muß eingeübt werden. Umgang mit symbolischer Sprache erlernt man ebenfalls an Märchen, aber auch an der Symbolsprache romanischer Kirchen.

 

Dies hat dann auch Wirkung darauf,  wie Schüler mit anderen religiösen Ausdrucksformen, z.B. mit Bibeltexten umgehen, wie sie Mythen, Riten, Sakramente verstehen. Aufgrund solcher Arbeit kann dann ganz neu gefragt werden, was es heißt, wenn wir sagen, daß Jesus der Sohn Gottes ist. Wie ist es zu verstehen, daß Jesus der Erlöser ist, daß Christen seinen Leib und sein Blut zu sich nehmen? All dies kann und darf nicht einfach in Alltagssprache übersetzt werden.Damit würde nur einer weiteren Verflachung der Erfahrungsmöglichkeiten Vorschub geleistet werden. Vielmehr muß der umgekehrte Weg beschritten werden, indem den Schülern wieder die "Doppelbödigkeit" religiöser Sprechweise erschlossen wird,  und sie den Mythos als Mythos, die religiöse Legende als Legende, die Metapher als solche erkennen, gleichzeitig aber die Tiefsinnigkeit dieser religiösen Aussagformen und ihre spirituelle Wahrheit und Relevanz wahrnehmen können. Unterrichtsblöcke zum Thema Sprachverständnis bilden damit nicht etwa eine Beigabe, sondern den Kern des Religionsunterrichtes. Wenn Sprache der Schlüssel zum Weltverständnis ist, kann auch nur eine religiöse Sprachlehre, sozusagen eine Grammatik religiösen Ausdrucks, ein oberflächliches, rein positivistisches Wirklichkeitsverständnis durchbrechen helfen, bei dem Wahrheit mit Fotografierbarkeit gleichgesetzt wird.

 

3.  Zivilcourage

 

Bei der letzten Abiturfeier hat mein Kollege Herr Fingerhut in einer vielbeachteten Rede die Frage gestellt, wie die Schule zur Zivilcourage erziehen könne. Er definierte damals Zivilcourage als “das mutige und selbstlose Eintreten für die eigene Überzeugung gegen Widerstand, ohne Rücksicht auf mögliche persönliche negative Folgen”. Als Beispiel gelebter Zivilcourage nannte  Herr Fingerhut damals die Flugblattaktion der Weißen Rose im Jahr 1943. “Was befähigt zur Zivilcourage?” fragte er hier. 

Ich möchte diese Frage vom letzten Jahr aufnehmen. Wie kann der Religionsunterricht einen Beitrag zur Entwicklung von Zivilcourage leisten?

Sicher, da werden im Religionsunterricht immer wieder Lebensmodelle von Menschen mit Zivilcourage vorgestellt. Kein Schüler, dem nicht irgendwann im Religionsunterricht einmal  Mahatma Ghandi, Martin Luther King oder eben die Geschwister Scholl begegnet wären. Viel wichtiger scheint mir noch das Beispiel eines jüdischen Rabbi aus Nazarreth zu sein, der für seine Überzeugungen von der römischen Ordnungsmacht gekreuzigt wurde.

 

Das selbstlose Eintreten für die eigene Überzeugung unter Inkaufnahme möglicher Nachteile für sich selbst scheint mir nur dann möglich zu sein, wenn man die Werte, die man verteidigt, höher einschätzt als das eigene Ich. Es bedarf also eines Maßstabes, der partikulare oder kollektive Egoismen übersteigt. Immanuel Kant sah die Bedingung für die Erfüllung des moralischen Gesetzes darin, daß ein Gott und eine künftige Welt sei. Ich möchte so weit nicht gehen, doch meine auch ich: Der Glaube an eine transzendente Autorität als letzter Grund moralischer Verpflichtung hilft zumindest Menschen,  auch dann ihren Überzeugungen zu folgen und das Rechte zu tun, wenn sich das rein innerweltlich betrachtet nicht lohnt, mit Nachteilen verbunden  oder gar gefährlich ist. Der christliche Religionsunterricht vermittelt hier das  Bild eines Gottes, der gerade mit denen solidarisch ist, die um ihrer Überzeugungen willen verfolgt werden.

 

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten!

 

Ich wünsche Ihnen, daß Sie das, was Sie in Ihrem schulischen Religionsunterricht gelernt haben, nicht als unnötigen Ballast empfinden, ob Sie nun gläubig sind oder nicht! Ich wünsche Ihnen, daß Sie die Frage nach dem, was die vorfindliche Wirklichkeit transzendiert, nach einem möglichen letzten Grund und Halt, nicht einfach als irrelevant abtun. Ich wünsche Ihnen allen -  als  Relgionslehrer  sei mir das erlaubt -  für Ihren weiteren Lebensweg Gottes Segen!

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